Dr. Mark Driscoll, McGill-Universität, Montreal, Kanada
Die Biomechanik hat eine lange Geschichte hinter sich seit den Tagen, als Leonardo da Vinci sich mit den Hebelarmen des menschlichen Körpers beschäftigte. Heutzutage steht den Forschern eine Fülle von Werkzeugen zur Verfügung, um herauszufinden, welche Kräfte in Muskeln und Gelenken wirksam sind. Die Forscher haben dabei neue und wichtige Entdeckungen gemacht, sehen sich aber mit umso mehr offenen Fragen konfrontiert. Die Faszien (z.T. festere, z.T. aber auch hauchzarte Einhüllungen von Muskeln und Sehnen) und ihre Bedeutung sind dabei sowohl Sieger als auch Opfer heutiger Forschungsergebnisse. Um die Biomechanik des menschlichen Bewegungsapparats zu analysieren, muss man Vereinfachungen vornehmen. Man wirft dabei die Faszien in Gedanken beiseite, so wie es Anatomen beim Sezieren im wirklichen Leben tun. Dabei haben die Faszien in den letzten Jahren an Beachtung gewonnen, denn sie übertragen mechanische Kräfte direkt und indirekt: Direkt, denn Endomysium1, Perimysium2 und Epimysium3 übertragen Kräfte von und zu den anhängenden Sehnen. Und auch indirekt, denn die Hülle wirkt zwar dem Innendruck eines sich zusammenziehenden Muskels entgegen, aber dieser Gegendruck gibt den benachbarten Strukturen, z.B. der Wirbelsäule, Halt und Stabilität.
Biomechanisches Wunderwerk
Die Wirbelsäule ist ein biomechanisches Wunderwerk angesichts ihrer komplizierten Aufgabe. Aber bei komplexen Aufgaben kann leicht etwas schiefgehen. Vielleicht ist deshalb die Wirbelsäule bei vielen Menschen für Schmerzen verantwortlich. Die Rolle der Faszien zur Wirbelsäulenstabilisierung wird noch immer nicht voll verstanden. Es wurden aber neue wertvolle Entdeckungen gemacht. Viele Forscher haben auf die Rolle der Faszien im Brust- und Lendenwirbelsäulenbereich für die Stabilisierung der Wirbelsäule hingewiesen, denn diese Faszien übertragen Kräfte bei koordinierten Aktivitäten, werden dabei durch den Bauch- und Muskel-Innendruck reguliert und können beim Versagen zu Krankheitserscheinungen führen. Diese Zusammenhänge erschweren die Aufgabe der Rehabilitationszentren bei ihrem Versuch, die Missetäter zu entlarven, wenn Faszien im Brust- und Lendenwirbelsäulenbereich an den Beschwerden beteiligt sind.
Wie wird das nun untersucht? Viele ln-vivo-Studien4 bestätigen die Rolle der Faszien im Brust- und Lendenwirbelsäulenbereich für die Wirbelsäulenstabilität. Unabhängig davon, ob ein erhöhter Bauch-Innendruck die Wirbelsäule wirklich entlastet, besteht Einigkeit darüber, dass der Bauch-Innendruck die Rumpfbeugung verstärkt und dass es einen Zusammenhang gibt zwischen diesem Innendruck und der Spannung der Faszien im Brust- und Lendenwirbelsäulenbereich.
Schon viele Versuche
Um die Wirbelsäulenstabilität genauer zu untersuchen, haben viele versucht, ein mechanisches Analogmodell für die Wirbelsäule zu entwickeln, scheiterten aber an dessen Stabilität unter realistischen Belastungen. Das Analogmodell ist nur stabil, wenn die Lastkräfte der Wirbelsäulenkrümmung folgen, also an jeder Stelle in Richtung der Tangente an die Krümmung wirken.
Alle Kräfte und Drücke der Muskeln und Faszien müssen also die Wirbelsäule so belasten, wie es ihrer Stabilität dient. Das bedeutet, dass die Faszien im Brust- und Lendenwirbelsäulenbereich mit der Muskelspannung versuchen müssen, die Wirbelsäule gegen die schwerkaftbedingte Last zu stabilisieren. Gegenwärtig wird versucht, dies in einem ln-silico-Modell5 zu berücksichtigen, um eine bessere Behandlung von Wirbelsäulen-Instabilitäten zu entwickeln. Die biomechanische Rolle der Faszien eröffnet neue Möglichkeiten, rheumatische Krankheiten zu behandeln. Die Entstehung einer Fehlfunktion und Behinderung variiert aber von Patient zu Patient und wird biomechanisch kaum verstanden. Ausserdem besteht die Gefahr, dass sich die Kompensationsmuster durch neue biomechanische Vorstellungen und eine Stress-Vermeidung sogar noch verschlimmern. Rehabilitation ist eine schwierige Aufgabe, und die Entwicklung eines neuen Rehabilitationsprogramms zur Linderung von Rückenschmerzen ist sogar besonders anspruchsvoll. Zweifellos wissen wir heute mehr als vor zehn oder 20 Jahren, aber wie dieses Wissen anzuwenden ist, ist eine andere Frage.
- Das Endomysium ist eine Schicht aus Bindegewebe, welche die einzelnen Muskelfasern eines Muskels umgibt.
- Das Perimysium ist eine Schicht aus Bindegewebe, die in die Tiefe eines Skelettmuskels einstrahlt.
- Das Epimysium dient als Verschiebeschicht zwischen der Faszie und den Muskelfaserbündeln. Es ist von der Faszie allerdings nicht klar getrennt.
- In vivo = am lebenden (Objekt), im Gegensatz zu «in vitro» = im (Reagenz-)Glas
- In silico = im (Computer-)Silizium
Quelle: Patientengemässe Übersetzung des in der Zeitschrift Journal of Bodywork & Movement Therapies Band 22 (2018) S. 90-91 erschienenen Editorials «Fascia – The unsung hero of spine biomechanics» (dort mit ausführlichem Literaturverzeichnis), Morbus-Bechterew-Journal (MBJ) Nr.156 (März 2019)